Warum können nicht mehr Brettspiele so wie Papers, Please sein?
In dem Indie-Computerspiel sitzt ein Grenzbeamter in seinem Häuschen und muss die Pässe derer kontrollieren, die einen faschistischen Staat verlassen wollen. Wenn alle Informationen korrekt sind, muss gestempelt werden: Ausreise gestattet. Aber nicht jeder darf raus. Die Spielmechanik steht exemplarisch für das absurd bürokratische System. Die knappe Zeit, die für jede Kontrolle bleibt, vermittelt dem Spieler den Druck, der auf dem kleinen Kontrolleur lastet.
Kurz: Papers, Please regt beim Spielen zum Nachdenken an.
Wie viele der über tausend Neuheiten auf der SPIEL 2019 tun das? Auf den Top-Listen der Blogger, YouTuber und Podcaster finde ich wenig solcher Spiele. Stattdessen stellen sie die neuen immer gleichen Deckbuilding-, Drafting-, Worker-Placement- und Roll-and-Write-Spiele vor. Nur dass diesmal unter Wasser statt auf dem Mars gebaut oder eine ganze Zivilisation in nur zwei Stunden erschaffen wird.
Versteht mich bitte nicht falsch: Ich deckbuilde, drafte, place Worker, rolle und write gerne mit euch.
Nur vermisse ich neben der Unterhaltung und dem sozialen Austausch, den diese komplexen Puzzles bieten, etwas, das mich zum Nachdenken bringt. Ich suche nach dem Brettspiel, das mich einlädt, über den Tischrand hinauszuschauen.
Was Watergate über Trump verrät
Mit Nachdenken meine ich, was zum Beispiel Watergate von Matthias Cramer mit mir macht. Zwei Kontrahenten spielen den Watergate-Skandal nach. Einer muss Nixon sein, der andere ist die Washington Post. Die Spielmechanik ist eng mit dem Thema verwoben: Die Journalisten nutzen ihre Züge, um nach Beweisen zu suchen, mit denen sie den Präsidenten und die Zeugen auf dem Spielplan verbinden können. Währenddessen nutzt Nixon die Zeit, um die Öffentlichkeit auf seine Seite zu bringen. Ein Tauziehen um die historische Deutungshoheit.
Watergate ist kein Spiel, das versucht, Historie mit dem pädagogischen Zeigefinger zu vermitteln. Zwar lernt man im Spiel historische Zusammenhänge, aber die stehen nicht im Zentrum. Watergate funktioniert auch ohne geschichtlichen Kontext – nur fehlt dann die spannendste Komponente. Der reale Bezug zu einem anderen, aktuelleren Ereignis.
Watergate regt zum Nachdenken an, weil der Skandal wie eine Blaupause für die aktuelle Ukraine-Affäre im Weißen Haus aussieht. Aber weil es nur eine Blaupause ist, muss sich Geschichte nicht unbedingt wiederholen. Geschichte muss nicht mal linear verlaufen. Jedes Ereignis kann früher oder später gespielt werden. So lernt der Spieler, dass auch wenn alle Beweise gegen Trump sprechen, er nicht zwangsläufig seines Amtes enthoben werden muss.
Wichtig ist, zu erwähnen, dass Watergate als Spiel Probleme hat: Manche Kartenereignisse sind viel zu stark. Die reduzierte Anzahl der Karten sorgt dafür, dass oft das Glück eine Partie entscheidet. Das ist aber nicht schlimm, denn auch die reale Politik ist kein perfekt ausbalanciertes Spiel, bei dem jeder die gleichen Chancen hat. Cramers Design ist auf Spannungsbogen fokussiert. Wer Watergate spielt, wird über Donald Trump nachdenken und erkennen, wie unwichtig manchmal Beweise sind und wie Tweets das Momentum zu Gunsten des Präsidenten drehen können.
Die Entscheidung das Spiel bereits im Juli 2019 statt wie geplant erst 2020 zu veröffentlichen, hat der Verlag Frosted Games perfekt getroffen.
Was Fog of Love mit dir macht
Ein weiterer Titel, der perfekt in die Kategorie Nachdenken passt, ist Fog of Love. Die Betonung liegt auf dem G. Das Spiel ist bereits zwei Jahre auf dem Markt und erscheint jetzt endlich auf Deutsch. Der Beziehungssimulator lässt die Spieler über ihre eigene Beziehung nachdenken oder über die Unfähigkeit eine zu führen.
Im Spiel bekommen zwei Spieler einen Charakter zugeschustert, inklusive Job, Aussehen und – viel wichtiger – Bedürfnissen. Letztere gilt es zu befriedigen. Nur dafür gibt es Punkte. Doch will man als Paar ja auch zusammenbleiben. Aus diesem Grund stellt sich vor jeder kritischen, romantischen und komischen Situationen die Frage: Tue ich etwas Gutes für mich oder für unsere Beziehung.
Im Gegensatz zu Spielen wie Therapy fühlt sich Fog of Love wirklich wie eine Therapiestunde an. Da aber kein Therapeut zugegen ist, sollte man aufpassen. Im Forbes Magazin empfiehlt die Autorin dieses Spiel explizit, nicht mit dem eigenen Partner zu spielen. Volle Zustimmung. Spielt Fog of Love, diesen perfekten Beziehungssimulator, mit jemand anderem. Ihr werdet viel über euch lernen oder bewusst nicht so sein, wie ihr wirklich seid. Ihr werdet zum Nachdenken gezwungen, denn hier stehen Beziehungen auf dem Spiel.
Mehr zum Nachdenken auf der SPIEL?
Welche Spiele suche ich also auf der SPIEL 2019? Vielleicht hilft mir ein Spiel wie Consumption: Food & Choices, mich besser zu ernähren. Wongamania: Banana Economy soll mir bitte Wirtschaft erklären. Natürlich muss ich als Redakteur der SZ auch mal Blood Leaks: Corruption ausprobieren und bei Ocean Crisis das Plastik aus dem Wasser fischen. bevor es im Meer verschwindet.
Wie viel Spaß diese Spiele machen, wird sich in den ersten Partien zeigen. Aber zumindest weichen sie ab von den immergleichen Aufbau- und Wettrenn-Spielen. Die sind das Äquivalent zum Ego-Shooter im Computerspiel-Bereich geworden. Die Punktezahl ist der Highscore. Also bitte liebe Brettspiele, Nachdenken, Please.
Wer also auf der SPIEL 2019 Spiele sieht, die zum Nachdenken anregen, der twittere mich gleich an: @hinschauer.