Sid Meier wäre bestimmt enttäuscht von Tapestry. Er hat mit seinem Computerspiel Civilization Geschichtsunterricht cool gemacht. Auf einmal war der Aufstieg und Fall des römischen Reiches nicht mehr nur ein reines Auswendiglernen von Jahreszahlen. Man konnte als Julius Cäsar selbst seine Legionen befehlen, den Fall des Imperiums verhindern und seine eigene Geschichte schreiben.
Das Versprechen, die Geschichte einer ganzen Zivilisation zu schreiben, machte auch Spieleautor Jamey Stegmaier vor einige Monaten. Sein neues Brettspiel Tapestry soll den ganzen unnötigen Ballast früherer Civ-Adaptionen aus Karton abwerfen. Auf dem namensgebenden Wandvorhang (engl. tapestry) sollen Generationen später noch die Errungenschaften ihrer Ahnen erahnen können.
Doch die Historie hat sich so nicht zugetragen: Tapestry ist kein Civ-Spiel. Es gibt den Spielern weder die Möglichkeit, einzigartige Entscheidungen für sein Volk zu treffen noch diese in einer adäquaten Weise auf dem Brett nachzuerleben.
Woran liegt das?
Auf den ersten Blick kann es nicht an der opulenten Ausstattung liegen, die den hohen Preis des Spiels rechtfertigt. In der Schachtel findet sich eine aufwendig gestalte Landkarte, auf der noch viele Stellen unentdeckt sind. Aus einem Plastikeinsatz ragen bemalte Bauwerke hervor. Es gibt Technologien wie Nägel und Zeitreise zu erforschen. Und natürlich liegen auch die zivilisationsstiftenden Tapestry-Karten bei, die aufwendig gestaltet, Historie bildhaft werden lassen sollen.
Leider sind es eben diese Komponenten, die all ihre beabsichtigte Wirkung verfehlen.
Woran erkennt man eine Zivilisation in Tapestry?
Eine Zivilisation sollte man an ihrer Geschichte erkennen. In Stegmaier stromlinienförmiger Vorstellung von Zivilisation dürfen die Spieler ihre Tapestry-Karten zwar in jeder Ära ausspielen und Boni dafür bekommen. Doch zum einen spiegelt der ausgelegte Wandteppich in keiner Form das wieder, was passiert ist, sondern was passieren könnte. Denn die Effekte dieser Ereigniskarten beziehen sich auf das, was folgt. Sie verhelfen dem Spieler zu Boni und Siegpunkten, zeichnen aber nicht das Schicksal deines Volkes nach. Zum anderen sind die Karten nicht chronologisch sortiert. Da kann sich das Mittelalter auch mal am Ende der Zivilisationsgeschichte zutragen.
Eine Zivilisation sollte man an ihren Errungenschaften erkennen. Doch leider erschaffen auch die Technologie-Karten kein Civ-Gefühl. Es fühlt sich falsch an, die Klimaanlage vor dem Nagel zu erfinden. Die wissenschaftlichen Entdeckungen verlieren schnell ihren Reiz, da sie – bis auf wenige Ausnahmen – keinen besonderen Effekt oder individuellen Vorteil für die eigene Nation verschaffen. Stattdessen gibt es mehr Rohstoffe, mehr Siegpunkte und neue Häuser.
200 Siegpunkte? Das ist eine anständige Zivilisation
Eine Zivilisation sollte man an ihren Wahrzeichen erkennen. Stegmaiers Verlag Stonemaier Games ist bekannt für seine Ausstattung. Das zeigt sich neben dem exzellenten Druck der Spielbögen vor allem bei den Miniaturen der Gebäude. Von kleinen Hütten bis zur Raumschiffstartrampe ist alles dabei, was eine große Zivilisation braucht. Und was macht man im Spiel mit den errungenen Wahrzeichen? Man spielt mit ihnen in seiner Hauptstadt Sudoku (Das Copyright für diesen Witz hat der Krimimaster). Vollständige Spalten und Reihen machen die Zivilisation nicht besonders – sie bringen lediglich noch mehr Siegpunkte.
Eine Zivilisation sollte man an ihren Entdeckungen erkennen. Eine der wichtigsten Elemente im Computerspiel Civilization war der fog of war, der Kriegsnebel. Dicht hängt er auch in der sechsten Iteration über der Minimap und wartet darauf von den Spielern gelüftet zu werden. Welche Landschaft verbringt sich hinter der Entdeckung, wird vorher nicht verraten. Nichts davon in Tapestry. Der Spieler deckt Entdeckungsplättchen auf und darf danach entscheiden, wo genau er sein bewaldetes Eiland ablegt, damit es möglichst noch viel mehr Siegpunkte bringt.
Eine Zivilisation sollte man an ihrem Fortschritt erkennen. Der kann an vier Leisten abgelesen werden. Rot für Militär, blau für Erkunden, grün für Wissenschaft und gelb für Technologie. Die Leisten sind die wichtigste Spielmechanik in Tapestry. Auf ihnen bewegen sich die Zivilisationen – in Form von kleinen Steinchen – vorwärts. Die jeweiligen Schritten bringen simple Effekte (eine Attacke, eine Technologie, ein Würfelwurf) und sind mit Namen wie Autos oder Atombombe überschrieben. Doch die wird nie gezündet. Wie bei Ganz Schön Clever bedingen sich die Effekte auf diesen Leisten. Der thematische Aspekt des Fortschritts ist kaum spürbar. Spürbar sind die unglaublich vielen Siegpunkte, die ein Fortschreiten auf den Leisten offenbaren.
Ein Spielzug in Tapestry hört sich dann so an:
„Und dann gebe ich einen Stern und einen Sack aus, um auf der roten Leiste einen Schritt vorzugehen. Dafür bekomme ich ein rotes Häuschen, das das neunte Feld in meiner Hauptstadt füllt. Dann bekomme ich einen Pilz, mit dem ich in der nächsten Runde den grünen Würfel werfen darf, damit ich hoffentlich auf der gelben Leiste den Sprung machen kann, um die Scheune zu bekommen – auch wenn ich dann den Bonus nicht bekomme.“
Poetischer hätte William Shakespeares es Julius Cäsar nicht in den Mund legen können.
Natürlich können die begrenzten Aktionen auf einem Spielfeld aus Karton nicht mit der möglichen Spannweite (no pun intended) an Möglichkeiten in einem Computerspiel konkurrieren. Und natürlich stehen die Schritte auf den vier Leisten nur symbolisch für den tatsächlichen zivilisatorischen Fortschritt. Und dennoch zeigt Tapestry ein solches Desinteresse an Geschichtsschreibung und an der individuellen Ausgestaltung der eigenen Nation, dass es sehr schwer fällt Stegmaiers Civ-Versprechen nicht zu hinterfragen. Tapestry ist kein schlechtes Spiel, aber es ist kein Civ-Spiel.
Wenn es Sid Meier mit Civilization gelungen ist, Diplomatie und Wissenschaft sexy zu machen, dann hat es Jamey Stegmaier mit Tapestry geschafft, eben diese Freude an historische Denken zu beerdigen. Seine Umsetzung menschlichen Fortschritts macht ungefähr so viel Freude wie ein vierfarbiger Rechenschieber. Und nicht einmal die unendlich vielen Siegpunkte machen im Spiel Freude, weil nicht deutlich wird, welche Aktion oder Strategie am Ende über Sieg und Niederlage entschieden hat.
PS: Was mich besonders geärgert hat, ist der letzte Satz in der Anleitung. Obgleich so viele Playtester das Spiel vorher ausprobiert haben, bittet Stegmaier seine Käufer/Spieler ihre Partien einzuloggen, damit er nachträglich zu starke Startkarten anpassen kann. Ist das nicht der Job des Autors bevor er sein Brettspiel veröffentlicht?