Am Schönsten finde ich es, wenn ein Comicautor/-zeichner frei vor sich hin fabuliert, wenn seine frischen Fußstapfen im Neuschnee zu sehen sind. Aber auch eine Adaption hat ihren Reiz. Die Reise durch den Schnee läuft dann erfahrungsgemäß gemächlicher ab. Man versucht in die Fußstapfen des Vordermannes zu treten und diese dabei nicht unnötig auszuweiten. Am Ende wird man sowohl an seinem eigenen Weg, als auch an dem des Vorgängers gemessen.
Dies gilt vor allem, wenn die Fußstapfen zu den größten der Weltliteratur gehören, wie im Falle von Marcel Proust. Seine Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hat sich der ehemalige Layouter Stéphane Heuet angenommen; Er hat recherchiert, gezeichnet, gelesen, gezeichnet, verworfen und wieder neu gezeichnet.
Das Panel der Woche der Woche stammt aus der ersten deutschen Ausgabe, mit dem Titel Combray, die der Knesebeck Verlag herausgegeben hat. Auf Seite 15 finden wir das letzte Panel – von zehn an der Zahl.
Was sehen wir auf den ersten flüchtigen Blick?
Ein Gesicht in Nahaufnahme. Näher als ein Porträt geht Heuet mit dem Fokus an sein Objekt heran. So nah, als könnte man es beinah berühren, als stieße man jeden Moment gegen seine buschigen Brauen oder seinen adretten Schnauzer. Heuet macht es dem Leser einfach ein Gesicht zu erkennen, obwohl die fleischfarbene Fläche nur wenig mit der Struktur und Form von Gesichtshaut zu tun hat. Sind es doch vielmehr die feinen Linien, die die Augen markieren sollen und die breiten dunklen Strichen, die das Haar darstellen. Wir erkennen den Ausschnitt des Gesichts auf dem Panel als Gesicht, weil die Konventionen der Darstellung eingehalten werden, weil wir einzelnen Teile des Gesichts ausmachen und Gesamtheit „Gesicht“ zusammenfügen können.
Auf dem Panel sehen wir aber noch mehr als das Gesicht eines Unbekannten. Wir sehen Dampf- oder auch Rauchschwaden, die links und unten an dem Gesicht vorbeiziehen. Die geschlossenen Augen und die Nähe des Dampfes zur Nase, lege nahe, dass die dargestellte Person den Dampf oder Rauch inhaliert, ihn bewusst wahrnimmt.
Ungewöhnlich an der Darstellung ist hingegen die Schrift, die sich auf dem Gesicht abzeichnet. Sicher handelt es sich bei „… bald gehen wir in die Messe …“ und „Guten Morgen, Tante Leonie“ nicht um feine Tätowierungen auf der Haut. An dieser Stelle kommt die Interpretation des Panels ohne weitere Informationen ins Stocken. Riskieren wir einen Blick auf die caption über und die caption unter dem Panel.
Der obere Text eröffnet neuen Interpretationsspielraum, den das Bild alleine nicht zulässt:
„Sicher muss, das was in meinem Inneren bebt, das Bild sein, die visuelle Erinnerung, die versucht diesem Geschmack zu mir zu folgen. Wird sie bis an die Oberfläche …“
Es wird eine mögliche Verbindung zwischen dem „Inneren“ – in das wir trotz des nahen Fokus nicht eindringen können – und der dargestellten äußeren Welt geschaffen. Eine visuelle Erinnerung drängt an die Oberfläche. Aber anstelle von Bildern sehen wir wie die schwarze Schrift an die „Oberfläche“ der Haut gelangt:
„meines Bewusstseins gelangen, diese Erinnerung des vergangenen Augenblicks …?“
Heuet erzeugt durch ein geschicktes Spiel aus langen Textpassagen, dem Roman Prousts entnommen, und der grafischen Darstellung ein Geflecht aus Wort-Bild-Konnotationen.
Auch hier lohnt sich ein Blick auf das gesamte Layout der Seite. Ganze zehn Panels drängen sich auf die Albenseite. Alle sind von unterschiedlicher Größe, alle haben bestimmte Aufgaben: Die Einführung der Figuren im ersten Panel, wie ein establishing shot im Film, gewissen Handlungsabläufe in den eher kleinen Panels 2-6. Bis zu diesem Punkt eine stringente Erzählung.
Das siebte Panel wirkt jedoch wie ein Fremdkörper. Ein Fragezeichen wird als grafisches Symbol einfügt, die Grenze zwischen Bild und Geschriebenem verwischt. Doch gelingt diese Grenzverwischung nicht ganz. Wohingegen Proust in seiner Syntax zwischen denen Zeitebenen hin- und herdriftet, bleibt der Comicleser an der Oberfläche des Gesichts zurück. Er kann nicht in die Gedankenwelt des Protagonisten eindringen, die ersatzweise durch den Text dargestellt wird.
Erst mittels des Dampfes, der sich durch die Panels zieht, gelingt es Heuet, auf der nächsten Seite in die Vergangenheit zu springen. Es ist keine Frage, dass Heuet auf der Suche nach dem verlorenen Proust etwas gefunden hat, ein Form der Darstellung, die versucht Grenzen zu überschreiten, doch spielt ihm die Form aus Bild und Text, die Erzählform „Comic“, dabei einen Streich. Während Prousts Suche sich in den Gedanken seiner Leser abspielt, klammert sich der Comicleser an den Bildern regelrecht fest, stehen sie ihm sogar bei seiner Reise in die verlorene Zeit im Weg.
Meine Besprechung zu Auf der Suche nach der verlorenen Zeit findet sich auf www.tagesspiegel.de.
Abbildung: © Knesebeck/Stephan Heuet