Die deutsche Comiclandschaft möchte uns derzeit weiß machen, dass nur Comics, die schwer in der Hand liegen und sich mit ebenso schweren Themen beschäftigen, vermarktbar sind und das öffentliche Ansehen dieser Kunstform aufpolieren. Dem einzelnen Panel ist es aber reichlich egal, ob es in einem hundertseitigen Folianten – mit dem Aufkleber „Graphic Novel“ versehen – erscheint oder in einem kurzen Comic Strip zu sehen ist. Letztere Form erfreut sich gerade bei den Webcomics großer Beliebtheit. Ein Grund mehr dort mal genauer hinzuschauen.
Nachdem die letzten drei Beispiele von Hingeschaut von einer Blutsverwandten ausgewählt wurden (vielen lieben Dank, kleine Schwester) habe ich das Panel der Woche diesmal wieder selber ausgesucht. Das es sich um einen Webcomic handelt, gibt es keine Seitenzahl, sondern nur eine URL. Um ganz ehrlich zu sein, ist der Webcomic auch unter dem Titel The Trail of Colonel Sweeto and other stories von Nicolas Gurewitch (erscheinen bei Dark Horse) als Buch verlegt worden, nur habe ich die Seitenzahl verlegt. So viel zur Theorie, dass etwas schwer sein muss, um sich zu verkaufen.
Das Panel ziert die dritte Position von vier. Während die Linien, die das Panel unten und rechts begrenzen, gerade gezogen sind, verlaufen die Seitenbegrenzungen oben und links leicht geschwungen. Was wir darauf sehen, ist das Porträt eines älteren, bärtigen Mannes. Er trägt eine kronenartige Kopfbedeckung und eine hellblaue Toga. An Schulter, Oberarm und Handgelenk setzt sich diese altmodische Kleidung fort: Dort ist er mit einer silbergrauen Panzerung mit Verzierungen bekleidet. Mimik, Gestik und Kleidung vermitteln den Eindruck, dass es sich hier um einen König oder anderen Adeligen handelt, vielleicht sogar um eine Sagenfigur.
Erst beim zweiten Hinsehen fällt auf, dass die sagenhafte Figur gar nicht so sagenhaft aussieht. Die Krone erstrahlt nicht mehr im Glanz alter Tage, sondern wird durch herunterhängende Algen mit dem Charme von Strandgut versehen. Auch die Augenpartie der Figur erschließt sich erst bei genauerem Hinschauen als debiles Schielen und sein Bart erscheint auch recht ungepflegt. So bricht Gurewitch das Bild vom Meereskönig. Dies fällt aber nur auf, wenn wir die kondensierte Form des Comic Strip nicht schnell an uns vorbei ziehen lassen, sondern genau hinschauen.
Umrahmt wird das Panel von zwei Sprechblasen. In Lettern mit Kapitälchen und antiquierter Sprache, fordert der Mann seinen bis dato nicht sichtbaren Zuhörer auf, sich ihm anzuschließen („Join me„) und mit ihm gemeinsam etwas Neu anzufangen („Let us begin anew„). Sicherlich ein edler Wunsch, der dem adligen Antlitz des Seeregenten entspricht. Doch in welchem Kontext steht diese Aussage?
Der Titel von Gurewitchs kurzem Comic Strip lautet: „Atlantis„.Wir sehen vier Panels. Auf dem ersten trauert ein kleiner Jungen seiner Sandburg, die von der Brandung zerstört wurde. Auf dem zweiten Bild erblickt der junge die Figur des alten Mannes auf ihn zukommen. In seiner direkten Rede nimmt er Bezug auf das erste Panel: „I, too, have lost a kingdom„.
Was erst auf dem letzten Panel deutlich wird, ist die Brechung der vorgetäuschten Position der Figur. Der Mann ist nämlich ein „Sex Offender„, ein gesuchter Sexualstraftäter, der von der Polizei abgeführt wird. Zwischen unserem Panel der Woche und der abschließende Pointe liegt nur ein Panelübergangm, ein gutter. Wie bei all seinen Comic Strips liegt genau hier die bitterböse Kraft des dunkelschwarzen Humors. Mit Perry Bible Fellowship drängt Gurewitch seinen Zuschauern die Details förmlich auf. Manche Point erschließt sich erst durch nochmaliges Lesen des Strips oder auch nur durch den Titel.
Abbildung: © Dark Horse/Nicolas Gurewitch
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