Er war einer der großen amerikanischen Dichter. Walt Whitman hat in seinem Gedichtband Leaves of Grass mit freien Versen, mit der Beobachtung der Natur dem Amerikaner Selbstbewusstsein und ein neues Demokratiegefühl geschenkt. Es lässt sich in einem Satz zusammenfassen: „I sing my body electric„. Sicherlich kann niemand in die Fußstapfen des Mannes mit weißem Rauschebart treten, doch gibt es in Sachen Comics einen Zeichner, der seinem Vorbild sowohl thematisch als auch strukturell folgt. Unter dem Titel The Wild Kingdom hat Kevin Huizenga eine Sammlung von seinen Minicomics, Supermonster und Or Else, neu herausgegeben.
Da der kleinformatige Comic keine Seitenzahlen aufweist, kann ich diese Woche leider nicht sagen, auf welcher Seite das Panel zufinden ist. Was sich aber sagen lässt, ist, dass es die achte Seite der Geschichte „Youth, youth, youth, youth“ ist. Auf der Seite befinden sich nur zwei Panels und wir schauen genau auf das erste, rechteckige Panel.
Nur selten arbeitet Huizenga mit Farben. Ein Grund dafür ist sicherlich sein Werdegang als Autor von Minicomics. Aber gehen wir gleich zu dem schwarz-weißen Panel über. Was wir sehen, erinnert auf den ersten Blick an Robert Crumbs A Brief History of America. Ein amerikanisches Idyll mit einem Telefonmasten, inklusive Leitungen, einem Dach, exklusive Haus, zwei Bäumen, die nur skizzenhaft angedeutet sind, und einem Himmel, dessen Wolken zu verschwimmen drohen.
Die Darstellung im Panel folgt einer interessanten Technik: Obwohl ein kurzer Blick eine lebendige Landschaft vermuten lässt, sind alle Bestandteile des Szenarios nur angedeutet. Es werden grafische Chiffren verwendet: Die Wolken sind Himmel sind nur parallele Linien, die Verästelung der Bäume wird durch ein Vor- und Hintereinander suggeriert und die beiden Hausdächer bekommen ihre Struktur durch Schraffuren. Wäre ein Vogel am Himmel zu sehen, wäre er sicherlich durch ein M-förmigen Bogen dargestellt. Ebenso schemenhaft wie die Darstellung, ist auch der gewählte Ausschnitt ein Markenzeichen von Huizenga, des Naturbeobachtungen mehr über Amerika aussagen, als über die Flora und Fauna selbst.
Während die Bilderfolge bei Crumb der Geschichte der Nation gleichkommt, verwendet Huizenga das Szenario anders: es vermittelt zum einen eine Stimmung und zum anderen dient es als Protagonist. Letzterer Punkt wird deutlich, wenn man sich auf die Suche nach einer Figur macht, der die dargestellte Szene als Hintergrund dient. Eine solche Figur gibt es hier nicht zu sehen.
Das einzige was sich auf dem Panel ausmachen lässt sind zwei kleine Schrifttafeln am linken unteren Rand: Ein Schild wirbt für: „Hamburge…“. Der ergänzenden Hinweis lädt typografisch ein: „Try our new chilli fries„. Was haben ein Hausdach und eine Hamburgerwerbung mit Whitmans Poesie zu tun? Ebenso wie der Vater des freien Verses, stellt Huizenga auf einem einzelnen Panel Natur und amerikanische Gesellschaft nebeneinander, bringt sie in Einklang und sagt so mehr über Amerika aus, als jedes Geschichtsbuch: Das ist jetzt Amerika, so sieht es heute aus.
Betracht man die ganze Seite und die gesamte Geschichte, so wird deutlich, dass auch die Erzähltechniken an den bärtigen Poeten erinnern. Huizenga nimmt sich Zeit für seine Geschichte, die er frei von Konventionen erzählt. Ebenso wie Whitmans Leaves of Grass, sind seine Minicomics kleine, demokratische (Flug-)Blätter in denen er seiner Fantasie freien Lauf lassen kann. Auf einer vorangegangen Seite zeigt er einen Reihe von Panels, die fast alle gleich aussehen: Eine Taube ist im Rückspiegel zu sehen. Was hat es mit diesem Vogel auf sich?
Die Kurzgeschichte „Youth, youth, youth, youth“ erzählt von dem Durchschnittsamerikaner Glenn Ganges, der wiederkehrende Protagonist in Huizengas Comics, der bei einer Autofahrt eine Taube auf der Straße durch den Rückspiegel betrachtet. Anstatt wegzufliegen, trockelt sie über die Fahrbahn und wird schließlich von einem Autoreifen erfasst. Im Rückblick erfährt der Leser, dass eben diese Taube die neuen Chilli-Fries probiert hat und ihr die scharfe Soße den Rest gegeben hat. Wie auch in seinen detailversessenen Organigrammen zeichnet Huizenga deterministische Verzweigungen auf, verknüpft Gesellschaft und Natur und weist auf ihre Dissonanz hin.
Es ist eben diese Ausschnitthaftigkeit, die Huizengas Comic zu einem hervorragenden Kommentar über die amerikanische Gesellschaft machen: Naive Menschen wandern ziellos durch eine Welt, deren Fast-Food-Ketten und Fortbewegungsmittel zu einer Bedrohung für die Tierwelt geworden ist. In einem grotesken Umkehrschluss wird bei der Lektüre von The Wild Kingdom bewusst, dass auch der Mensch zu dieser Tierwelt gehört. Durch die Verwendung von absurden Schaubildern, Werbung für „The Hot New Thing“, das man unbedingt braucht, und Äpfel, die grotesk genetisch wurden, malt Huizenga ein pervertiertes Bild von Amerika.
Genau hier trennen sich auch die Wege von Huizenga und Whitman. Auch wenn der bärtige Gevater den Anstrich eines Naturpoeten hatte, so sollte man doch genauer hinschauen. In Song of Red-Wood Tree heißt es zwar“The new society at last, proportionate to Nature“, so müßen die majestätischen Bäume doch weichen, um Platz zu schaffen, Platz für die neue Gesellschaft, das neue Amerika: „Clearing the ground for broad humainty, the true America, heir of the past so grand, To build a grander future„. In Huizengas Comic weicht die Natur und mit ihr zusammen der Mensch.
Auf Deutsch sind von Kevin Huizenga leider bisher nur ein Album im avant-Verlag erschienen. Wenn sich ein Verlag trauen würde, diesen Zeichner zu übersetzen, würden wir so viel mehr über Amerika und seine Bewohner auf der einen Seite und über den Comic und seine Erzählformen auf der anderen Seite erfahren.
Abbildung: © Drawn & Qaurterly/Kevin Huizenga