In ihrem Sachbuch Drachenväter zeichnen Konrad Lischka und Tom Hillenbrand die Entstehung des amerikanischen Rollenspiels Dungeons & Dragons nach, verweisen auf literarische Vorväter und wagen einen Blick in die digitale Zukunft der Zunft.
Die Vorstellungskraft ist der kreative Muskel des Menschen. Er erlaubt es ihm, sich in fremde Welten zu imaginieren, jemand anderes zu verkörpern und Abenteuer im Kopf zu erleben. Genau darum geht es bei sogenannten pen-and-paper-Rollenspielen. Angeleitet durch die Erzählungen eines Spielmeisters wird aus dem Stift ein Schwert und aus einem 20-seitigen Würfel das Schicksal.
Übersteigt das ihre Vorstellungskraft?
November 1972: Der begeisterte Strategiebrettspieler Gary Gygax lädt seine Bekannten Dave Arneson und David Megarry zu sich nach Hause ein. Mehr 500 Kilometer reisen die beiden an, nur um ihren neuen Prototypen zu testen. Statt Auszuwürfeln, wie sich die Figuren über das Brett bewegen, beschreibt Arneson stimmungsvoll, was die Mitspieler sehen und macht die Entwicklung abhängig von ihren Reaktionen. Zwei Jahre später werden Gygax und Arneson aus verschiedenen Ideen das wohl erfolgreichste Rollenspiel-System der Welt zusammengebaut haben: Dungeons & Dragons.
An der Geburt des Rollenspiels waren aber nicht allein diese beiden Väter beteiligt. In ihrem Buch Drachenväter zeigen Konrad Lischka und Tom Hillenbrand, dass die Ursprünge viel verzweigter sind: Von der Fantasyliteratur der 70er Jahre über H.G. Wells’ Gesellschaftsspiel “Little Wars” bis hin zu preußischen Kriegsspielen reichen die Vorläufer zurück. Um der aufwendige Recherche Herr zu werden, haben Hillenbrand und Lischka ihr Buch sehr erfolgreich durch Crowdfunding finanziert.
Fast die Hälfte des so entstanden Folianten nehmen die Hommagen an Fantasy-Autoren wie Robert E. Howard (Conan), Fritz Leiber (Fafhrd und Grauer Mausling), und JRR Tolkien (Herr der Ringe) ein. Obwohl Lischka und Hillenbrand kohärent erläutern, welchen Einfluss die Autoren auf die Genese des Rollenspiels haben, gestaltet sich diese ausgedehnte Historie (inklusive Leselisten) etwas langatmig. Viele spannende Anekdoten werden angerissen, aber erst in der zweiten Hälfte des Buches erzählt. Die eigentliche Leistung von Gygax und Arneson bestand darin, Dungeons & Dragons als ein System zu verkaufen, mit dem sich die populären Fantasywelten nachspielen ließen.
Stell dir vor, du bist ein Hobbit oder Gandalf höchstselbst.
Die Botschaft verkauft sich und mit ihr das liebevoll als “Rote Box” titulierte Basis-Set von Dungeons & Dragons, im Jahr 1984 alleine drei Millionen mal. Nach Angaben ihrer neu gegründeten Firma TSR (Tactical Studies Rules) macht das einen Jahresumsatz von ca. 29 Millionen Dollar. Was an Gygax’ Esszimmertisch begann, weitet sich zum Global Player aus. Während sich die Geschichte der Kriegssimulationen in Drachenväter etwas dröge liest, bauen Lischka und Hillenbrand aus den Erinnerungen der ehemaligen TSR-Angestellten eine wirklich unterhaltsame Wirtschaftsgeschichte. Die Arbeitssituation bei TSR weckt in der Vorstellungskraft Vergleiche zu den Anfängen bei Google: Bunte Räume, kreative Menschen, Arbeit als Spiel. Leider kann sich auch TSR dem realen Druck der Wirtschaft nicht entziehen. Als gewissenhafte Chronisten folgen die beiden Autoren auch dem Abstieg des Unternehmens.
In Drachenväter werden vor allem die prä-digitalen Netzwerke zwischen den Spielern betont. Private Kontakte werden durch Veröffentlichungen in einschlägigen Fachmagazinen gepflegt. So schwappt D&D auch nach England. In Deutschland hingegen konnten die Drachen nicht Fuß fassen. Schuld war vor allem die grausame Übersetzung:
Aus einem torch (engl. “Fackel”) wurde eine Taschenlampe.
Lischkas und Hillenbrands Liste der grotesken Übersetzungen geht munter weiter. Außerdem hatte Schmidt Spiele bei dem Deal mit TRS zu hoch gepokert und musste auf die Schnelle ein eigenes Rollenspiel veröffentlichen. Der Kontinent Aventurien, die Welt von Das Schwarze Auge (DSA), wurde in nur zwei Stunden aufgezeichnet. Nach vier Wochen hatte jeder Fluss und jede Bergkette einen Namen. Die Vorstellungskraft von Ulrich Kiesow, Werner Fuchs und Hans Joachim Alpers haben bewiesen, dass Rollenspiel-Welten allein von der Fantasie ihrer Spieler leben.
In den vergangenen Jahren ist die Vorstellungskraft verkümmert. Lischka und Hillebrand präsentieren dem Leser zwar erste digitale Rollenspiele, handeln die aktuelle Größe der Zunft, World of Warcraft, in nur ein paar Seiten ab. MMORPGs haben zwar die soziale Komponente des Rollenspiels revolutioniert, doch ist die Vorstellungskraft keine Grundvoraussetzung mehr. Stattdessen werden Muskeln durch Pixel dargestellt.
Drachenväter ist ein unerlässliches und reich bebildertes Werk für Spieler, deren Vorstellungskraft über normale Brettspiele und digitale Welten hinausgeht. Dennoch zieht sich das Buch über lange Strecken. So ist es interessant zu erfahren, dass H.P. Lovecrafts Call of Cthulhu die Idee der Open-Source in Umlauf gebracht hat und welche KoSim-Spiele es in den 70er Jahren gab, doch hätte man auch schneller zum unterhaltsamen Anekdoten kommen können, ohne dabei auch nur ein Stück der Historie zu vernachlässigen.
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