In der letzte Woche habe ich versucht zu zeigen, mit etwas Erfolg will ich doch hoffen, wie selbst ein einzelnes Panel in einem Comic das kulturelle Gedächtnis anzapft und so eine Vielzahl von weiteren Bilder im Kopf freisetzt, die das Panel förmlich überlagern. Heute möchte ich den umgekehrten Weg gehen und bei einem Panel hinschauen, das sowohl einen Comic als auch als andere Quellen zitiert, diese aber nur als Hintergrund für die eigene Geschichte verwendet.
Der gekonnte Umgang mit Zitaten will gelernt sein. Natürlich ist jeder Autor und Künstler selbst für die Auswahl seiner Quellen und wie er diese in seinen eigenen Text einsetzt, verantwortlich: ob direkt, versteckt oder auch ganz offensichtlich. Wenn nicht gerade eine postmoderne Collage vorliegt, die zunächst einmal auf die eigene Beschaffenheit und den Akt des Schreibens als solchen hinweisen will, sollte man davon ausgehen, dass der Vorgänger und sein Text von dem Autor zu einem bestimmten Zweck ins Boot geholt wurden. Schauen wir doch mal wer mit im Boot sitzt!
Das Panel der Woche entstammt heute der Feder von Kevin Huizenga. In seinem Sammelband Curses (erschienen bei Drawn and Quarterly) versammelt der Amerikaner neun Geschichten, die all durch seinen Protagonisten Glenn Ganges verbunden sind. Auf Seite 79 finden wir in der Geschichte „The Curse“ Panel Nummer vier. Das schwarze-weiße Panel findet sich in der zweiten Reihe der Seite.
Zu sehen ist zunächst einmal ein rechteckiges Panel, dessen Begrenzung von Hand gezogen sind. Das obere Viertel des Bildes nimmt eine caption ein, der besonders viel Raum eingeräumt wird. Sie ließt sich wie folgt: „‚[Mozart] shared several behavioral characteristics with starlings. He was fond of mocking the music of others … He also kept late hours … [starlings also] indulge in more than a little night music‘ (ibid. 112)“. Ohne diese caption auch nur annähernd mit dem restlichen Panel in Verbindung zu bringen, geht es weiter: Die grafische Darstellung darunter zeigt eine zunächst unbestimmte Landschaft. Am linken Bildrand stehen einige Bäume und ein bäuerliches Haus. Von links kommend trifft ein kleiner Weg auf eine größere Landstraße. Im Hintergrund ist noch ein davonfahrendes Auto auszumachen und am rechten Bildrand Eisenbahnschienen und Strommasten und -leitungen.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht diesem Panel aber nicht die Szenerie als solche, sondern die kleine Sprechblasen, die mit Musiknoten, Lautmalerei und undefinierbaren Worten angefüllt sind. Das interessante an diese Sprechblasen sind ihre Erzeuger: Obwohl ein Dorn von der Sprechblase nach unten führt, ist nicht zu erkennen, wer der Sprecher ist. Die einzigen Akteure, mit Ausnahme des nicht sichtbaren Fahrers sind ein Paar relativ simpel dargestellte Vögel, die sich gerade von der Leitung erheben. Anhand der caption lässt sich schließen, dass die vereinfachten Wesen auf dem Panel eben solche Stare sind. Was Mozart mit diesen Vögeln zu tun hat, lässt sich aus dem einzelnen Panel nicht schließen.
Ein Blick auf die komplette Seite mag mehr Aufschluss geben: Anhand der anderen neun Panels auf der Seite wird deutlich, dass die Szenerie als solche erstmal schmückendes Beiwerk ist. Die eigentliche Erzählung geht von den captions aus, in denen beschrieben wird, was Mozart mit den Staren genau zu tun hat, und welchen Einfluss ein Star auf seine Komposition „Ein musikalischer Spaß“ (Köchelverzeichnis 522) hatte. Bereits im ersten Panel auf der Seite wird deutlich, dass die captions sich aus Zitaten, in diesem Fall Sekundärquellen wie der Zeitschrift „American Scientist„, speisen. Bis hierher könnte man meinen, Huizenga illustriere seine gefunden Auszüge über Mozart und die Stare mit einer gewöhnlichen Landschaft. Das ist zum Teil auch so und dennoch sind auch die Bilder Zitate.
Die Linien der Zitate in den captions werden, wie der kleine Weg im Panel der Woche, von einer anderen Ebene gekreuzt: Betrachtet man die Bilder eingehender, so wird deutlich, dass große Zeitsprünge zwischen den einzelnen Panels stattfinden: vom Dampfschiff zum Zug, von der frühen Trambahn zu McDonalds. Die Auswahl der Motive findet sich so bei einem anderen amerikanischen Comickünstler wieder: bei Robert Crumb.
In A Short History of America (1979) nutzt der Undergroundcomix-Künstler Robert Crumb eben diese imaginäre amerikanische Landschaft, um den technischen Fortschritt zu demonstrieren, der fast ausschließlich durch Fortbewegung geprägt ist. In welchem Bezug stehen die beiden Comics? Und hier schleicht sich der alte Teufel Interpretation in das Spiel aus Zitiertem und Zitat.
Vielleicht starte ich einfach mal einen Versuch: Huizengas Geschichte dreht sich um einen Starenschwarm, der so penetrant pfeift, das die Bewohner von Glenns Straße nicht schlafen können. Auf einer dreispurigen Zitatautobahn (Literaturverweise in den captions, Crumbs Amerika und Mozarts Sextett „Ein musikalischer Spaß“) holt der Künstler weit aus. Der Bogen wird gespannt, um zu erläutern, warum die Stare Teil dieser kurzen amerikanischen Geschichte sind und welche Besonderheit die zitathafte Geräuschnachamhung der Fortbewegungsmittel hat.
Wie auch in den anderen Geschichten von Huizenga deutlich wird, ist er ein Fabulierer, ein Erfinder von Geschichten, die sich kreuzen, die aber nicht unbedingt verbunden sein müssen, wie das Geschichtenkonglomerat um Glenn Ganges zeigt. Teil dieser Fabulation ist das Zitat, das ermöglicht bestimmte Kontext zu verwenden und zu verweben. Ähnlich wie z.B. ein Soundword ein bestimmtes Geräusch vermittelt, greift Huizenga in „The Curse“ ein ganz bestimmtes Comicmotif auf, um auch ein ganz bestimmtes Szenario für Glenn, seine Stare und die amerikanische Geschichte zu entwerfen. Und aus diesem Grund sitzen Glenn, Mozart, Kevin, Robert und ein Haufen Stare in einem Boot.
Abbildung: © Drawn and Quarterly/Kevin Huizenga/ Robert Crumb