In den letzten Wochen hat man eindrücklich gesehen, dass die detaillierte Analyse eines einzelnen Panels sehr aufschlussreich sein kann, da sie auf Brüche in der Sequenz hinweist und so Informationen über den gesamten Comics liefert. Der ergänzenden Blick auf die angrenzenden Bilder darf dabei jedoch nie ausbleiben, da diese mit miteinander kommunizieren, wie Glieder in einer Kette.
Obwohl ein direkte Kommunikation zwischen den Lesern, den Künstlern und den Verlagen eine utopische Vorstellung wäre, entstehen auf Seiten der Leser sogenannte interpretive communities, Gemeinschaften von Lesern, die bestimmte Annahmen an die Texte herantragen und ihre Lektüre danach abstimmen. So bilden zum Beispiel Hardcore Marvel-Fans, die sogenannten Marvel Zombies, eine interpretive community, die das Marvel-Universum mit allen seinen Kontinuitäten zusammenhalten. Aber auch die gesamte Leserschaft von Superhelden-Comics ist so eine Gemeinschaft.
Das Panel der Woche ist selbstverständlich auch einer bestimmten Lesart unterworfen, da auch ich zu einer bestimmten Lesergemeinschaft gehöre. Es wurde diesmal freundlicherweise von meinem Kollegen und Autor
Marc-Oliver Frisch ausgewählt, von dem mir auch der Comic geschenkt wurde (auch eine Form der Kommunikation). Danke für die Inspiration Marc-Oliver!
Auf Seite 17 von der ersten Ausgabe von
DOOM FORCE findet sich in der unteren rechten Ecke ein fast quadratisches Panel, das komplett in unterschiedlich hellen Beige-Tönen gehalten ist. Anstelle eines realistischen Hintergrund befindet sich in der Mitte des Panels ein weißer
Fluchtpunkt, der strahlenförmig Linien aussendet. Um diesen herum versammeln sich die fünf Protagonisten und Teammitglieder von
DOOM FORCE.
Flux, Shasta the Living Mountain, Spinner, Scratch und The Crying Boy springen dem Leser förmlich ins Gesicht. Auf den Armen und Beinen aller Helden prangen überdimensionale Muskelberge, die den schmalen Taillen in ihrer grotesk, unrealistischen Darstellung in nichts nachstehen. Eine solche Szene war nicht unüblich in den den Superhelden-Comics der Neunziger Jahre. Die interpretive community der Leser wird eben diese bestimmten Muster wiedererkennen und dem Superhelden-Genre zuordnen. Spätestens nach diesem Panel werden alle Handlungen dem Diktum der Superhelden-Comic-Lesart unterworfen.
Denn nur so lässt sich auch die überbordende Sprechblase von Scratch erklären. Selbstverständlich spielt sich die eingefrorene Action in kürzer Zeit ab als die wörtliche Rede. Auch hier wird die Gemeinschaft der Leser den Erzählkonventionen des Genres folgen und diese Tatsache nicht in Frage stellen. Doch was liest man dort in Scratchs Sprechblase? „Say no more, Miles! I’ve been waitin‘ for another crack at this creep! Just point my in the right direction!„Wir sehen also wie die Helden wild in ihr nächstes Abenteuer stürzen, doch dem Held ganz vorne scheint gar nicht einzuleuchten, in welche Richtung es überhaupt gehen soll.
Den ungeschriebenen Gesetzen der Superheldennarration ist sich der Autor
Grant Morrison bewusst und spielt damit. Morrison erfüllt zwar alle Konventionen des Genres Superhelden-Comic, doch überdreht er ihr Konzept, wie in diesem Panel zu sehen. Scratch weiß gar nicht mehr wohin mit seiner Kraft, springt doch los, während ihm einfällt, dass er gar nicht weiß, wo es langgeht.
In diesem Beispiel gibt das Layout der gesamten Seite weitaus weniger Bezugspunkte zu dem ausgewählten Panel als in vorangegangen Beispielen, was auch daran liegt, dass die Superhelden-community weniger Informationen bedarf, da sie mit mehr Annahmen die Handlungen ergänzen als andere Leser. Links sehen wir noch ein Panels mit Miles, dem Hirn der Truppe. Er schickt Doom Force ins Abenteuer gegen Anton Zero, der wieder einmal die Welt bedroht.
Warum ist dieses einzeln ausgewählte Panel symbolisch für den gesamten Comic? Wie wir oben gesehen haben verfügen Leser über ein Vorwissen, über bestimmte Leseerfahrungen. Vielleicht haben einige von ihnen sogar
Rob Liefelds X-Force gelesen, denn genau diesen Comic parodiert Morrison gekonnt. Sowohl die Darstellung der aufgepumpten Muskeln als auch die selbstironische Anspielung auf das Kostüm von Una, der Schwester des Bösewichts Anton Zero, sind Parodien auf Marvels Superhelden und deren Physiognomie: „Why, why, why must you insist upon covering yourself up?“ Wobei sie, wie auf dem Bild zu sehen, schon fast nichts mehr an hat.
Weitere Beispiele für Morrisons Parodie finden sich auf dem Cover: Sowohl der Trend multiple Cover in den Neunziger zu produzieren, als auch diese mit Teasertexten zu versehen: „Which one of these Heroes will die?“ Die Textbox, in Form eines Pfeils, zeigt dabei unverkennbar auf Shasta, der auch im Verlauf des Comics immer wieder als nutzloses Mitglied beschrieben wird. Seine einzige Fähigkeit besteht darin sich in einen Berg zu verwandeln, inklusive Skilift. An anderer Stelle wird Scratch ganz klar mit Marvels Aushängeschild Wolverine gleichgesetzt: „He may not be the best at what he does … but, unfortunately nobody else does it!“ Ein Spruch der in leicht abgewandelter Form zu Wolverines Markenzeichen geworden ist. Morrison nutzt ganz bewusst die interpretive communities aus, die solche Wort- und Bildzitat sofort wiedererkennen.
Kommen wir zurück zu dem Panel der Woche. Was auf den ersten Blick wie ein ganz normales Panel erscheint in dem das Team der Action entgegenspringt, wird zu einem wunderbar ziellosen Sturm ins Ungewissen, ohne jede Richtung. Aber die Richtung ist Morrison auch egal, solange seine Figuren
makabere Doppelgänger von bekannten Helden und seine Geschichte eine absichtlich billige Kopie der immer wiederkehrenden Superheldengeschichte von der Rettung der Welt sind. Ebenso wie meine Analyse eines Panels ein Spiegelbild des ganzen Comics darstellt, so erzeugt Morrisons mit DOOM FORCE einen
Zerrspiegel für die Gesamtheit der Superhelden-Comics, zumindest im Jahr 1992.
Abbildung: © DC Comics