Das Panel zeigt eine männliche Figur, die sich gerade ihr Hemd zuknöpft. Es ist keine besondere Mimik oder Gestik zu erkennen. Ein gedecktes und blasses Beige geben dem Hemd und dem Gesicht des Mannes ein unscheinbares Aussehen. Auch die Haare haben die gleiche Farbe wie das Gesicht. Die Oberflächenstrukturen – verdeutlicht durch seitliche Schraffuren – lenken keine besondere Aufmerksamkeit auf bestimmte Elemente des Bildes.
Eine Erklärung für diese Art der Darstellung findet sich im Hintergrund des Panels, das Miller mittels crosshatching gezeichnet hat. Diese Technik entsteht durch ein engmaschiges Muster an sich kreuzenden Linien, die Struktur erzeugen. Im Gegensatz zu den komplett schwarzen Hintergründen in Sin City findet hier eine Verdichtung statt: Erst durch das Zwielicht der Dunkelheit lässt sich die schemenhafte Farbgebung und die Struktur der Figur erklären: Ein Mann zieht sich in der Dunkelheit an.
Ein kleiner Dorn verbindet die Sprechblase mit der Figur: „… I do love you, Casey“ sagt der Mann beim Anziehen. Auch die verbale Äußerung wirkt von der Dunkelheit erdrückt. Ohne viel in diesen Satz hineininterpretieren zu wollen, so klingt das eigentlich für den Satz unnötige „do“ nachgeschoben, erklärend und entschuldigend.
Mit diesem Panel und wenigen Anhaltspunkten lässt uns Miller alleine in der Dunkelheit. Eine einzelne Zelle, abgeschnitten vom restlichen Organismus des Comics. Dabei handelt Ronin selbst von sich stets weiter entwickelnden Zellhaufen. In einer fernen Zukunft hat das Aquarius-Unternehmen Computer mit Maschinen gekreuzt und entwickelt sich selbst reproduzierende Biowaffen. Miller setzt diese Zellhaufen nicht nur in Szene, sondern macht sich ihr System zu nutze. Die Panels in Ronin fungieren wie eine Ansammlung von Zellen, die als Kollektiv mehr Bedeutung haben als einzeln.
Und genau diese Qualitäten kommen auch in unserem Panel zur vollen Geltung. Für sich alleine ist Panel Nummer 9 auf Seite 27 in Band drei von Ronin nur eine kleine Zelle, die wenig Informationen preisgibt, doch in Verbindung mit seinen Nachbarn, entwickelt die linguistische Nuance des nachgeschobenen „do“ plötzlich ganz andere Konnotationen.
Auf der gesamten Seite zeigt uns Miller das Gespräch zweier Liebender, eines Pärchens, das sich nach einer gemeinsamen Nacht im Dunkeln von einander verabschiedet. Die Panels erzeugen eine Distanz zwischen den Figuren; Beide Protagonisten tauchen auf den relativ schmalen Panels nur einmal gemeinsam auf. Auch ihr Dialog scheint, trotz der dicht aneinanderliegenden Sprechblasen, aneinander vorbeizugehen. In ganz neo-realistischer Manier wird hier nur über die Arbeit, nur über Oberflächlichkeiten gesprochen; Probleme werden ausgeklammert. Unterstrichen wird diese Distanz auf den letzten vier Panels der Seite. Dort wird eine räumliche Ebene künstlich erzeugt, an deren Ende die beiden Protagonisten sich voneinander entfernen. Der Leser nimmt die beiden leeren Panels als Teil des Raums war, als Distanz zwischen den Figuren.
Nur selten schlägt Miller in seinem Comic solch leise Töne an. Meist wird die Handlung von mangainspirierten Actionsequenzen überlagert. Eins haben diese Sequenzen aber dennoch gemein. Alle Szenen konstruiert Miller mit einem unglaublichen Gespür für Timing und Wechselwirkungen der einzelnen Panels, der kleinsten Einheiten.
Durch genaues Hinschauen wird deutlich, dass sich zwar einzelne Zellen untersuchen lassen, doch diese Untersuchung nur in Verbindung mit ihren kompletten Sequenz Sinn macht. In Ronin scheint diese Tatsache noch bewusster eingesetzt zu sein als in Millers späteren Meisterwerken, wie The Dark Knight Retuns, 300, Sin City. Für alle grafisch-interessierten Zellbiologen sollte Ronin Pflichtlektüre sein.
Abbildung: © Frank Miller/DC Comics
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