Fasst man alle Kunstrichtungen der Jahrhundertwende zusammen, entsteht ein subversiver Strom unter der bürgerlichen Oberfläche, der sich verzweigt, gabelt, nur um anschließend wieder von einer neueren Strömung überflutet zu werden: Symbolismus, Surrealismus, Expressionismus, Impressionismus oder Dadaismus. Was aber, wenn all diese Strömungen nicht gegen, sondern miteinander arbeiten.
Das Ergebnis eines solches Amalgams ist X’ed Out, der neuste Comic von Charles Burns. Doch bevor meine Einleitung zu ausufernd wird, fangen wir mit dem Hinschauen an:
Da jeder Strom irgendwo seinen Ursprung, seine Quelle, hat, schauen wir uns diesmal die erste Seite des Comics an. Überspringen wir zunächst die ersten Panels der Seite, die derer acht hat, und schauen gleich auf das abschließende achte Panel, das Panel der Woche (ja, ich bin irgendwie aus dem Rhythmus gekommen, bin aber noch dran).
Wir sehen einen Raum, einen konstruierten Raum. Mit dem Rücken zur vierten Wand blicken wir vorbei an einer Figur, die noch im Bett sitzt, auf die gegenüberliegende Wand, die aus roten Ziegelsteinen besteht. Im Kontrast zur Realität des Roten Bollwerks stehen die beiden anderen Wände, die Decke und der Boden.
Seltsam ist das Zusammenspiel der Inneneinrichtung, weil die braune Vertäfelung, deren Farbe im dunklen Schatten untergeht (die rechte Wand liegt vollends im Dunkeln) nichts mit dem Rot der Ziegelsteine zu tun haben scheint. Während das Braun eine Inneneinrichtung impliziert, verweist die rote Mauer eher auf eine Außenwand. Ein büroraumfarbenes Grau an der Decke und ein Radiergummiorange für den Teppich geben dem Raum einen simplen Anstrich. Der gesamte Raum wirkt unnatürlich gedehnt, da am anderen Ende keine Möbel stehen.
Nach einer kurzen Orientierung fällt mein Blick auf das schwarze Loch in der Mauer. Obwohl das Loch nicht der Fluchtpunkt des Raumes ist, deuten alle Indizien im Raum wie Wegweiser unweigerlich auf diese Leerstelle hin: Die Kopfhaltung der Figur, der Blick der schwarzen Katze, die vor dem Loch sitzt, die Sprechblase, die aus dem Loch hervor kommt: „BZZZZZ„. Das Loch baut eine Anziehungskraft auf, die den Blick förmlich, wie bei einem Strom, mitreißt.
Für einen Moment lenkt dieses letzte Panel, dieses schwarze Loch, von allem was zuvor geschehen ist, ab. Die ganze Komposition der Seite wird verstört: Das langsame Erwachen der Figur, die Ähnlichkeit zu Hergés Tim, der unzuverlässigen Erzähler aus dem Off – „This is the only part I’ll remember“ – und die grafischen Anleihen an die ligne claire. Alles wirkt unecht.
In nur einem einzigen Panel erzeugt Burns einen solchen Sog, dass die gesamte Realität, von der Vertäfelung der Wände bis hin zur schwarzen Katze wie eine bloße Fassade wirkt. Es ist die Welt hinter diesem Loch, die erst den Blick für den eigentlichen Strom der Stilrichtungen eröffnet. Doch so weit möchte ich heute nicht mitreißen. Soll doch das schwarze Loch seine Sogkraft beweisen, und neue Leser für X’ed Out ansaugen.
Abbildung: © Pantheon Books/Charles Burns