In den vergangenen Folgen von Hingeschaut hat sich immer wieder bewiesen, dass ein Panel erst in einer Reihe von mehreren Panels sein volles Potential entfaltet. Zwar liefert das einzelne Bild viele Informationen, doch ist der Prozess der Entschlüsslung eines einzelnen Panels ohne die gesamte Abfolge der Handlung oftmals unmöglich. Umso mehr wird diese Tatsache deutlich, wenn man bei einem Panel hinschaut, das einen Wendepunkt in der Handlung markiert.
Das Panel der Woche hat der Großmeister des japanischen Comic gezeichnet, Osama Tezuka. Im ersten Kapitel von Barbara (erschienen bei Schreiber und Leser) mit dem Titel „Die Verkäuferin“ leitet das Panel die Seite 14 ein.
Aus der Froschperspektive sehen wir außer einer jungen Frau nicht viel auf dem Panel. Fast waagerecht liegt die Dame in rechteckigen Panel und füllt den vorhandenen Platz ganz aus. Ihre Pose im Panel wirkt steif. Sie trägt einen kurzes Kleid, welches durch die Perspektive hervorgehoben wird. Selbstverständlich lässt sich durch die Kleidung und durch die Perspektive hier von male gaze sprechen. Soll heißen, der Körper der Frau wird sexuell aufgeladen, da er stets nur von einer männlichen Perspektive aus betrachtet wird.
Die Aufteilung des Panels verstärkt diesen Aspekt und liefert viele Informationen. Was zunächst wie ein gutter, eine Trennlinie zwischen zwei Panels, aussieht, entpuppt sich bei genauerem Hinschauen als gläserne Tischplatte auf der die Frau ungelenkt ihre Finger abgestellt hat. Durch diese Information wird deutlich, dass auch der gesamte Raum rechts von ihrer Hüfte Teil des durchsichtigen Tresens und somit kein neues Panel ist.
Abgesehen von der Frauenfigur ist die restliche Ausstaffierung des Panels interessant zu betrachten. Tezuka hat den Oberkörper der Figur mit geraden Linien umgeben. Diese Linien haben zwei Funktionen: Zum einen verlaufen sie parallel zur Frauenfigur und umschließen sie in einer Form von Stasis. Ganz im Gegensatz zu speelines, die horizontal ausgerichtet wäre und den Körper Mobilität verleihen würden. Zum anderen lassen sie den männlichen Blick an dem Oberkörper hinabgleiten und führen ihn direkt zu den rechten Teil des Panels.
Außerdem ist das Panel mit dekorativen Schatten versehen. Während die amorphen schwarzen Gebilde den Blick auf die Frau richten, dienen die beiden arabesken Schatten in der linken Panelhälfte als Zierde. Zusammen mit der Frisur und Figur der Frau wirkt diese Hälfte wie ein Bild, das durch die Epoche des Jugendstils inspriert wurde.
Ebenso wie der Blick des Leser so fällt auch der Blick des Protagonisten, des Autors Yosuke Mikura, auf die junge Dame. Obwohl auf der vorangegangen Seite schon ein kleines Panel mit ihr gezeigt wird, zeigt dieses Panel hier die erste Begegnung der beiden Figuren. Das Panel der Woche ist also eine Vorstellung der neuen Figur. Mikura ist sofort bezaubert von ihr, redet mir ihr und verzerrt sich nach ihr. Erst im Laufe der Handlung wird deutlich, was in diesem Panel schon angedeutet wird.
Geschickt hat Tezuka hinter der Starre der Hände, der Führung der Linien, die gewählte Pose und Perspektive die Tatsache versteckt, dass „Die Verkäuferin“ keine Verkäuferin ist, sondern eine Schaufensterpuppe. Die male gaze hat sich also in ihrer eigenen Gier nach der Weiblichkeit selbst betrogen.
Selbst bei genauem Hinschauen lassen sich bestimmte Informationen nicht entschlüsseln. Erst rückblickend wird deutlich, was hier subversiv eingeflochten wurden.
Eine ausführliche Besprechung von Tezukas Barbara findet sich unter www.comicgate.de.
Abbildung: © Schreiber und Leser/Osama Tezuka